Warum wende ich mich der Geschichte zu?
Es gibt zwei Gründe, warum ich mich der Geschichte und der Methodologie der Geschichtswissenschaft so stark verpflichtet fühle.
※Dieser Artikel ist eine deutsche Übersetzung des folgenden japanischen Artikels.
なぜ私は歴史を志向するのか/ Why Do I Turn to History?: 本に溺れたい
Der erste ist die Niederlage des japanischen Kaiserreichs im Jahr 1945. Warum mussten so viele Japaner und Ausländer sterben? Warum mussten meine Großmutter, meine Onkel und Tanten durch amerikanische Flammenwerfer verbrannt werden? Und dann das klägliche, erbärmliche Ende des kaiserlichen Heeres und der Marine. Von 1868 bis 1945 hatten diese Institutionen so viel Macht über die Untertanen des Kaiserreichs ausgeübt, und doch zerfiel in den letzten Kriegsphasen ihre innere Ordnung – viele Einheiten waren nicht einmal mehr als militärische Organisationen erkennbar.
Verweis 1: Gelesen: Hiroshi Yoshida, „Der japanische Soldat“ (2017) – oder: Über historisches Denken (1), Hon ni Oboretai
Verweis 2: „Dass die Anführer des Kaiserheeres und der Marine im Tokioter Prozess von fremden Mächten zur Verantwortung gezogen wurden, ist etwas anderes, als dass sie gegenüber den Untertanen des Kaiserreichs Verantwortung getragen hätten.“ → Über die Vieldeutigkeit des Verantwortungsbegriffs (2), Hon ni Oboretai
Der zweite Grund lautet: War der Zustand der modernen Zivilisation wirklich unausweichlich? Warum lässt die heutige erdölbasierte Zivilisation die chronische Umweltzerstörung letztlich unbeachtet? Selbst nach dem Peak Oil produzieren wir weiterhin unablässig „Atommüll“ aus den Kernkraftwerken – eine absurde Tatsache. Wenn das „einfache“ (sprich: billige) Erdöl einmal versiegt ist, wird es nicht einmal mehr Ressourcen geben, um diesen Müll zu beseitigen.
Vielleicht hätte sich all dies vermeiden lassen, wenn das japanische Volk – oder die Menschheit überhaupt – an irgendeinem Punkt einen anderen Weg eingeschlagen oder die Richtung rechtzeitig korrigiert hätte. Was hätte es gebraucht, welche Bedingungen hätten erfüllt sein müssen, damit sich eine andere, „bessere“ Realität als die gegenwärtige hätte entfalten können? Das möchte ich wissen.
Um dies zu erkennen, reicht weder ein historischer Determinismus noch ein Standpunkt aus, der sich anmaßt, aus göttlicher Höhe auf die Vergangenheit zu blicken. Eine solche Perspektive kann uns nicht helfen, aus der Geschichte Lehren für unser gegenwärtiges Handeln zu ziehen. Wir Menschen werden nicht von übergeordneten Plänen oder externen Gesetzen gelenkt, die unserem Bewusstsein entzogen sind. Aber ebenso falsch – ja unmenschlich – ist die Vorstellung, dass Menschen jederzeit und überall ihre Absichten ohne jede Mühe oder Zögern verwirklichen könnten. Es geht um das menschliche Potenzial, das auch in Leid und Schwierigkeit besteht. Eine Geschichtsauffassung, die dieser Wirklichkeit des menschlichen Lebens ins Auge blickt, und eine historische Darstellung, die diesem Denken folgt – das ist mein Wunsch.
Die dafür geeignete Methodologie ist der Ansatz der Komplexitätstheorie, und ihre konkrete Anwendung auf historische Prozesse bildet die Theorie der historischen Ressourcen. Der Mensch ist in dieser unendlich vielfältigen und weiten Welt nur begrenzt dazu fähig, rational zu handeln – dies nennt man begrenzte Rationalität (bounded rationality). Daher braucht der Mensch, wenn er denkt oder zu handeln versucht, in irgendeiner Form unterstützende, ergänzende Ressourcen. Das sind zunächst die Dinge und Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung. Zugleich gehören dazu auch die Traditionen, die wir aus der Vergangenheit erben – Institutionen, Bräuche, Ideen, Denkweisen und Praktiken, die von früheren Generationen erdacht, geschaffen, erprobt worden sind.
Tradition ist somit nicht etwas, das uns fesselt. Sie ist vielmehr eine Ressource, die uns gerade angesichts der Komplexität und Vielfalt der Welt – die unsere begrenzten Fähigkeiten leicht lähmen könnte – unterstützt und uns sogar Freiheit im Denken und Handeln ermöglichen kann.
Siehe auch: „Bricolage und die Theorie der Ressourcen“, Hon ni Oboretai
Wenn man die Leistungen jener Menschen betrachtet, die im eigentlichen Sinne Tradition erneuert und der Menschheit eine neue Dimension eröffnet haben, erkennt man: Sie haben sich – trotz aller Kämpfe und Umwege – ausnahmslos auf die Tradition gestützt und sie von dort aus überwunden. Menschliche Innovation erscheint uns oft als etwas, das nur möglich ist, wenn man sich vollständig von der Tradition lossagt. Das, so glauben viele, sei Kreativität und Originalität – als würde man etwas aus dem Nichts schaffen. Diese Vorstellung hat sich tief eingebrannt. Doch das ist nichts als eine gefährliche Illusion, entstanden aus einem Fortschrittsglauben. Politische Reset-Ideologien und ein blinder Innovationskult sind pathologische Erscheinungen eben dieser Illusion.
So wird es möglich, über die Vergangenheit und Zukunft des Menschen in einer Weise zu sprechen, die seinem wirklichen Maß entspricht – nicht als Zug, der auf von der Umwelt vorgegebenen Schienen automatisch fährt, und nicht als göttlicher Verstand, der sich überheblich für den besten Weg entscheidet.
Wenn ich an den japanischen Archipel und seine Geschichte denke – den Ort und die Zeit, in die ich hineingeboren wurde und in der ich lebe –, dann kehre ich zu den zwei eingangs gestellten Fragen zurück. Um sie zu durchdringen, habe ich mich dafür entschieden, die Beziehung zwischen den 270 Jahren des Tokugawa-Japans und den 100 Jahren des Meiji-Japans zu untersuchen. Wandel und Veränderung, Fortdauer und das Fortführen – die Bewegungen, das Hin und Her der Menschen auf diesen Inseln neu zu bewerten: mit kühlem Kopf, aber warmem Herzen (with cool heads but warm hearts, Alfred Marshall, 1885). Das ist mein gegenwärtiges Anliegen.
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