Seki Hirono, „Der Mythos der Präsenz und die Macht des Westens“, November 1984.
Seki Hirono, „Der Mythos der Präsenz und die Macht des Westens“, November 1984.
Viele Marxisten in der heutigen Welt hängen immer noch einer sogenannten „dialektischen Materialismus“ an, den Marx selbst wohl nie vertreten hat. Infolgedessen mühen sie sich vergeblich ab, Dialektik und historischen Materialismus zu einem einheitlichen System zu verschmelzen. Diese sinnlose Sisyphos-Arbeit, den Kreis zum Quadrat zu machen, wollen wir ihnen überlassen. Doch das Chimärische des dialektischen Materialismus (Diamat) bedeutet nicht nur eine Verzerrung und Fälschung von Marx’ Schriften. Es hat auch konsequent verhindert, seine Texte in ihren historisch möglichen Bedeutungen neu zu entziffern, indem es sie aus ihrem historischen Zusammenhang riss und in eine Heilige Schrift verwandelte, bestehend aus einer Reihe von Offenbarungen.
So haben viele verkannt, dass Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie und Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie im Grunde zwei Werke sind, die dasselbe Thema behandeln. Daher sollten wir hier erneut fragen: Haben die Marxisten je hinreichend erklärt, warum Marx’ Kapitalismuskritik notwendigerweise die Form einer „Kritik der politischen Ökonomie“ annehmen musste, die auf den ersten Blick wie ein scholastisches Unterfangen erscheint? Statt diese Frage zu beantworten, haben sie sich darauf beschränkt, eine weitere Chimäre neben dem dialektischen Materialismus zu erschaffen – nämlich die sogenannte „Marxistische Ökonomie“. Dabei zeigt schon der Untertitel des Kapital, dass für Marx das Geheimnis der kapitalistischen Produktion untrennbar mit der Existenz der Wissenschaft, mit einer bestimmten diskursiven Ordnung in der Form der „Ökonomie“, verbunden ist. Selbst seine Polemiken gegen Proudhon und Bakunin müssen letztlich auf diese Einsicht zurückgeführt werden. Was bedeutet es, dass es Ökonomie überhaupt als Wissenschaft gibt? Und was bedeutet es, diese zu kritisieren? Ohne diese Fragen ist es unmöglich, zu begreifen, wer Marx eigentlich war.
Natürlich gab es auch in den nichtwestlichen Zivilisationen wie China, Indien oder der islamischen Welt eine Wirtschaftsweise, die auf Landbesitz, Handwerk, Geldwirtschaft und Märkten beruhte. Dort existierte nicht nur eine Geldwirtschaft, sondern es gab auch „Kapitalismus“ in Gestalt von Hofhändlern und Wucherern. Doch während die nichtwestliche Welt zu so scheinbar „selbstverständlichen und niederen“ Dingen wie Arbeit und Handel, Produktion und Verteilung des alltäglichen Reichtums nicht einmal wirtschaftliche Normen entwickelte, wurden diese in der westlichen Welt zum Gegenstand einer organisierten Diskursform – als Wissenschaft. Es ist daher nur folgerichtig, wenn wir annehmen, dass zwischen dem spezifisch westlichen Wissenschaftsideal und der in der westlichen Welt allein entstandenen kapitalistischen Produktionsweise – einer nicht-traditionalistischen Ökonomie – ein historischer Zusammenhang bestehen muss.
Meiner Ansicht nach waren Marx, Weber und in gewissem Sinne auch Hegel – ob bewusst oder unbewusst – in diese historische Fragestellung involviert. Und vermutlich gibt es auf diese Frage nur eine einzige Antwort: Der Grund, warum sich moderner, „fortschrittlicher“, systematischer und rationaler Kapitalismus allein im Westen entwickelte, liegt darin, dass westliche Macht stets als Macht des Logos – als Macht der diskursiven Ordnung – existierte, und dass der westliche Logos von Anfang an eine kapitalistische Struktur in sich trug.
Die vom Marx im Rahmen der politischen Ökonomie thematisierte Macht des westlichen Logos hatte bereits im Römischen Imperium und im christlichen Mittelalter zwei genuin westliche Wissenschaftsformen hervorgebracht: Theologie und Rechtswissenschaft. Die moderne Ökonomie ebenso wie die frühneuzeitlichen Naturwissenschaften sind aus dem Schoß dieser beiden hervorgegangen. Theologie und Jurisprudenz – keine zwei Disziplinen fassen die Eigenart der westlichen Zivilisation prägnanter zusammen und offenbaren so unmittelbar das Wesen des westlichen Wissenschaftsideals.
Natürlich sind Tabus und Mythen über die Götter universelle Tatsachen der Menschheitsgeschichte. In allen bekannten Gesellschaften der Geschichte finden sich Tabus, Normen und Erzählungen über Götter. Doch gerade weil Tabu und Mythos universell sind, wird es zu einer umso bedeutungsvolleren Frage, warum nur in der westlichen Welt eine Wissenschaft über diese beiden entstand. Ein Mensch der nichtwestlichen Welt – etwa ein Literat unter der konfuzianischen Bürokratie des Tang-Reiches – hätte vielleicht noch ein gewisses Verständnis für das westliche Wissenschaftsideal auf der Grundlage seiner eigenen Schriftgelehrsamkeit (Literacy) entwickeln können. Aber dass das Recht und die Mythen der eigenen Gesellschaft zu einem Gegenstand abstrakter, systematischer Diskurse werden könnten – das dürfte für ihn eine unvorstellbare Vorstellung gewesen sein.
Kurz gesagt lässt sich Folgendes feststellen: Damit etwas wie Theologie entstehen kann, müssen die Götter als abwesende Objekte zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht werden – und zwar als etwas rein Abstraktes und Universelles, als der fiktive Begriff des „Seins“. Anders ausgedrückt: Theologie kann nur dann Wissenschaft sein, wenn sie die Form der Ontologie annimmt. In diesem Zusammenhang erscheint das „Sein“ als jenes Sein, das alle Seienden umfasst, und somit als gleichbedeutend mit der „Welt“.
Die Entstehung von Rechtswissenschaft wiederum setzt – insofern sie beansprucht, die vielfältigen historischen Wechselwirkungen zwischen Menschen aus der Perspektive einer abstrakten, universellen Wissenschaft zu behandeln – die Vorstellung einer „guten menschlichen Natur“ voraus, die nicht durch Geschichte bedingt ist. Man erinnere sich daran, dass seit der römische Staatsmann Cicero das Wort Humanitas geprägt hat, die Popularisierung der stoischen Philosophie und die Systematisierung sowie Formalisierung des römischen Rechts im kaiserzeitlichen Rom Hand in Hand verliefen. Auch in diesem Fall gilt: Die „gute menschliche Natur“ wird als eine Eigenschaft des menschlichen Seins betrachtet, wie sie durch die zuvor erwähnte Ontologie definiert ist.
So tritt die Ontologie als eine Lehre von der göttlichen Vollkommenheit und Güte des Seins hervor. Zugleich wird mit Berufung auf das „Sein“ sowohl die Vollkommenheit Gottes als auch die Güte des Menschen begründet. Dass jedoch der Begriff des „Seins“ als etwas rein Abstraktes und Universelles, wenn man ihn als Substanz auffasst, – wie Hegel es betonte – „dem Nichts gleichkommt“, versteht sich von selbst.
Wie oben dargelegt, lässt sich sagen, dass die westliche Wissenschaft, deren paradigmatische Ausprägungen in Theologie und Jurisprudenz zu finden sind, letztlich die Form einer Ontologie annimmt. Doch man möge sich hier nicht täuschen: Der Terminus Ontologia selbst wurde erst zu Beginn der Neuzeit von den deutschen Philosophen Goclenius und Clauberg geprägt – die Griechen zum Beispiel kannten ein solches Wort nicht.
Wenn die antiken Griechen von onta sprachen, meinten sie – ganz im Einklang mit ihrer frühen Bewusstwerdung der Geschichtlichkeit menschlicher Existenz – nicht einfach das, was vor Augen steht, sondern das, was in der Gegenwart existiert, im Kontrast zu den Tatsachen der Vergangenheit und der Zukunft. Für ein Volk, das in solchen Begriffen dachte, konnte „Ontologie“ nur eine absurde Vorstellung sein.
Und dennoch: Wie Heidegger in seiner Einführung in die Metaphysik andeutet, ist es kaum zu bezweifeln, dass der Weg zur späteren Vorherrschaft der Ontologie im modernen Westen durch das scheinbar beiläufige Wort des vorsokratischen Griechen Parmenides aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. eröffnet wurde: „Das Seiende ist.“
Der Satz des Parmenides Estin to einai ist keineswegs, wie später häufig missverstanden wurde, ein Ausdruck des Identitätsprinzips A = A. Denn Äquivalenz (equivalent) und Identität (identical) sind völlig verschiedene Konzepte – niemand würde etwa die Gleichung 2 × 3 = 6 mit der Aussage „Sokrates ist ein Athener“ gleichsetzen.
Zudem bedient sich diese These einer trickreichen Grammatik: Sie nutzt die im indoeuropäischen Sprachraum eigentümliche Verwendung des bestimmten Artikels sowie des Infinitivs, um „das Sein“ als referierbares Objekt erscheinen zu lassen – ein Sachverhalt, der sich leicht nachweisen lässt. Doch all diese sprachkritischen Überlegungen sind letztlich von untergeordneter Bedeutung.
Entscheidend ist vielmehr die historische und politische Motivation, die hinter der Aussage des Parmenides steht. Gerade weil Denker wie Heidegger oder Derrida die Dekonstruktion der Ontologie anstreben und doch nicht den Mut aufbringen, das Logozentrische radikal auf das Politische – auf das Wesen der polis – zurückzuführen, wird diese Problematik umso bedeutender.
Mit dem Wort des Parmenides tritt die Ontologie als eine Lehre hervor, die untrennbar mit der spezifischen Form der Machtausübung im Westen verbunden ist – einer Gewaltform, die dem westlichen Machtverständnis eigen ist. Sein ist überall gegenwärtig; es durchdringt unerbittlich alle Seienden mit seiner Herrschaft und kennt keinerlei Rechtfertigung gegenüber seinem eigenen Dasein. „Warum gibt es Sein und nicht vielmehr das Nichts?“ – Zu existieren heißt, einer grundlegenden Gewalt ausgeliefert zu sein.
Wenn Parmenides also sagt: „Was ist, ist“, dann offenbart sich das Sein als eine universale Gewalt, die zugleich ihn selbst – das sprechende Subjekt – wie auch die anderen, die seine Rede (rhema) empfangen, durchdringt. Mit anderen Worten: Während er vordergründig über das Sein als ein Objekt spricht, erhebt er sich in Wirklichkeit zum souveränen Sprecher eines Diskurses, in dem er das eigene Dasein als Grundlage setzt und die anderen auf eine ihm exklusiv zugängliche Erkennbarkeit reduziert.
Dies ist nichts anderes als der archetypische Mythos des Subjekts – jenes Subjekts, das sich selbst immerfort ins Nichts zurückzieht, während es die Anderen und die Welt zu Objekten herabstuft.
Diese westliche Idee von Wissenschaft hat ihren Ursprung in der These des Parmenides, die Sein mit Anwesenheit gleichsetzt. Diese Wissenschaft beginnt – insofern sie als Ontologie auftritt – mit der Feststellung der Identität des Gegenstands und rechtfertigt sich als Beschreibung der Wahrheit, die der Gegenstand in sich trägt. Wahrheit bedeutet hier die Angemessenheit (adequatio) einer Aussage, die Wissen mit dem gegenständlichen Seienden zur Übereinstimmung bringt.
Doch die Identität des Gegenstands, die die Wissenschaft zu beschreiben vorgibt, ist nichts anderes als ein fiktiver Anderer, den sie sich zu eigenem Nutzen zurechtgelegt hat. Was zählt, ist allein, dass die scheinbare Identität der Wissenschaft sich im Spiegelbild des Anderen durchsetzt. Die Wissenschaft als Wahrheitsbeschreibung des Gegenstands setzt die Kolonialisierung des Anderen voraus – sie kann nur als Fiktion fortbestehen durch die Erziehung des Anderen.
So werden mit dem Wort des Parmenides die Differenz als Differenz und die Andersheit des Anderen ausgelöscht. Damit öffnet sich eine historische Möglichkeit hin zu jenem Mythos, wie er später etwa in Webers Religionsgeschichtsschreibung oder in Lévi-Strauss’ strukturaler Anthropologie begegnet: dem Mythos, dass allein der westliche Mensch über die Erkennbarkeit des Anderen verfügt.
Anmerkung 1 des Blogautors: In den Zitaten wurden die ursprünglichen Kenten-Hervorhebungen durch fette Schrift ersetzt. Farbige Schrift wurde in der Originalquelle nicht verwendet und dient hier ausschließlich der Hervorhebung durch den Blogautor.
Anmerkung 2 des Blogautors: Die Analyse im späteren Teil des Textes darüber, wie die auf „Theologie“ und „Rechtswissenschaft“ basierende Macht des Wissens die westliche Herrschaft über die nichtwestliche Welt rationalisiert hat, erinnert stark an Pierre Legendres „Dogmenanthropologie“.
Quelle
Seki Hirono, „Der Mythos der Präsenz und die Macht des Westens“, November 1984.
Enthalten in: Seki Hirono, Kapitalismus – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kageshobo, erschienen im November 1985, S. 165–170.
Den japanischen Originaltext finden Sie im folgenden Beitrag auf unserem Blog.
関 曠野「現前の神話と西欧の権力」1984年11月/ Myths of the Appearance and Western Power: 本に溺れたい
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