Vom Streben nach Erwerb und Eigentum zur Orientierung an Fürsorge und Verpflichtung
Der folgende Text war ursprünglich als Buchrezension konzipiert, entwickelte sich jedoch in eine ganz andere Richtung. Ich halte ihn hier vorerst als Memo auf meinem Blog fest.
[Rezension] Katsuta Aritsune / Mori Seichi / Yamauchi Susumu (Hrsg.): Einführung in die Geschichte des westlichen Rechtswesens, Minerva Verlag, 2004
Originaltitel: 勝田有恒・森征一・山内進編『概説西洋法制史』2004年ミネルヴァ書房
Dieses Werk ist eine unverzichtbare Lektüre für nicht-westliche Intellektuelle. Denn dass moderne, riesige und komplexe Gesellschaften eine gewisse Ordnung bewahren und betrieben werden können, verdanken wir dem ausdifferenzierten System des modernen Rechts. Und dieses ist zweifelsohne ein historisches Erbe, das von den westlichen Völkern aufgebaut wurde.
Der Titel des Buches lautet zwar „Einführung in die Geschichte des westlichen Rechtswesens“, doch es lässt sich auch als ein deutsch geprägtes Handbuch der Europäischen Verfassungsgeschichte bezeichnen.
In wissenschaftlicher Hinsicht handelt es sich um ein Gemeinschaftswerk von Historikern des Rechts- und Verfassungssystems, die vorwiegend aus den akademischen Traditionen der Hitotsubashi- und Keio-Universität stammen. Auffällig ist das Fehlen von Autoren aus dem Umfeld der Universität Tokio und der Universität Kyoto. Wenn man jedoch von wissenschaftlichen Traditionen sprechen will, wäre es vielleicht treffender, die Autoren als japanische Historiker zu charakterisieren, die unter starkem Einfluss eines der bedeutendsten Verfassungshistoriker des 20. Jahrhunderts stehen – Otto Brunner. Das Werk ist ausgewogen aufgebaut, klar formuliert und als Arbeitsgrundlage für das Hauptstudium oder das Graduiertenstudium sehr nützlich.
Allerdings, so hervorragend die inhaltlichen Darstellungen auch sein mögen, bleibt eine wesentliche Leerstelle unausgesprochen: die Geschichte des angelsächsischen Rechts. Im 19. Jahrhundert war England die Hegemonialmacht, im 20. Jahrhundert die Supermacht Amerika. Die Geschichte des Rechts dieser beiden Jahrhunderte zu beschreiben bedeutet also faktisch, die rechtshistorischen Ressourcen des Common Law-Systems darzustellen. Tatsächlich wird das moderne, hochentwickelte Business-System – etwa im Bereich des geistigen Eigentums – maßgeblich durch amerikanische Rechtsauffassungen und juristische Techniken geprägt. Auch rechtstechnische Verfahren wie die Verbriefung von Emissionsrechten für Treibhausgase sind typisch amerikanisch.
Der Ausgangspunkt dafür liegt im Konzept der Locke’schen Naturrechte auf dem neuen Kontinent, und insbesondere in dem damit verknüpften Eigentumsbegriff (property). Die Naturrechtslehre Lockes entfaltete auf dem unerschöpflich erscheinenden, als „herrenlos“ angesehenen Land Amerikas – wobei das Eigentum der indigenen Völker (native Americans) ignoriert wurde – eine Wahlverwandtschaft (Elective Affinities), die zur Entstehung eines Individualismus führte, der auf Aneignung und Eigentum basierte (Individualism in acquisition and property).
Auf diesem Boden entstand erstmals in der Menschheitsgeschichte ein Staat, der stolz darauf ist, keine „Last der Geschichte“ zu tragen: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Gesellschaft, die sich dort herausbildete, ist eine Business Society. In dieser individualistischen Gesellschaft ohne historischen Ballast gilt etwa Talent als Eigentum des Individuums, und dessen Wert wird anhand des auf dem Markt objektiv bestimmten Einkommens bemessen. Shohei Ohtanis Talent wird in den USA erst dann bewundert, wenn es mit einem Preisschild versehen ist – etwa mit einem Vertrag über 100 Millionen Dollar. Erst dann wird sein „Eigentum“ – also sein Talent – im vollen Umfang gewürdigt.
Die dringendste Herausforderung der heutigen Menschheit ist das Umweltproblem. An dessen Wurzel liegt die aus den USA stammende Business Society, deren Fundament ein mit Naturrechten und Eigentumsrechten verknüpfter Individualismus ist – ein Individualismus, der auf Aneignung und Besitz basiert. Die weltweite Amerikanisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Umweltkrise entscheidend verschärft. Die Gesellschaft steht bereits nicht mehr im Zeichen des Wettbewerbs um überreichlich vorhandene Ressourcen, sondern ist gezwungen, ein System der gerechten Verteilung tatsächlich knapper Güter zu entwickeln – mit einer ideellen und rechtlichen Legitimation.
Die westliche Welt von der Frühmoderne bis zur Moderne hat mithilfe des naturrechtlich begründeten Eigentumsindividualismus die Krisen des 17. Jahrhunderts überwunden und daraufhin die moderne Gesellschaft aufgebaut. Doch dieses Prinzip geriet in den USA – einem Land, das sich rühmt, keine „dunkle Geschichte“ zu haben – völlig außer Kontrolle, was zur heutigen Lage geführt hat. Um diesen Kurs im Übergang vom 21. zum 22. Jahrhundert umzukehren, ist ein Wechsel der normativen Zielvorstellungen sowie deren institutionelle und strukturelle Umsetzung notwendig. Die Menschheit steht an einem Scheideweg, an dem sich entscheidet, ob es gelingt, vom expansiven Individualismus der „Aneignung und des Eigentums“ zu einem auf Schrumpfung oder Stabilität ausgerichteten Individualismus der „Fürsorge und der Verpflichtung“ überzugehen – sowohl ideell als auch strukturell.
In diesem Kontext kommt der westlichen Rechtsgeschichte zwangsläufig die Aufgabe zu, einen Beitrag zur Analyse jenes historischen Prozesses zu leisten, der uns an diesen Scheidepunkt geführt hat. In seinem Nachwort (S. 360) äußert sich der Herausgeber Yamauchi Susumu zwar entschuldigend zum unzureichenden Anteil der englischen Rechtsgeschichte im Werk, doch meiner Meinung nach hätte man zumindest das letzte Kapitel diesem Thema widmen sollen. Die Darstellungen zur Antike, zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit hingegen sind auf hohem Niveau und inhaltlich sehr überzeugend.
Katsuta Aritsune / Mori Seichi / Yamauchi Susumu (Hrsg.): Einführung in die Geschichte des westlichen Rechtswesens, Minerva Verlag, 2004, 372 Seiten
Inhaltsverzeichnis
Ⅰ: Recht und Gesellschaft im antiken Europa (Die Welt des römischen Zivilrechts; Juristen und Rechtswissenschaft in der klassischen Epoche Roms)
Ⅱ: Recht und Gesellschaft im mittelalterlichen Europa (Die Zeit des Frankenreichs; die Feudalgesellschaft u.a.)
Ⅲ: Recht und Gesellschaft in der frühen Neuzeit Europas (Rezeption des römischen Rechts; Anfänge der Moderne)
Ⅳ: Recht und Gesellschaft im neuzeitlichen und modernen Europa (Die Historische Rechtsschule; Pandektenwissenschaft und Privatrechtspositivismus u.a.)
Verlagsankündigung
Dieses Werk ist die erste Einführung dieser Art in Japan, die – auf der Grundlage zahlreicher historischer Quellen, Kolumnen und Abbildungen – die historische Entwicklung des europäischen Rechts mit wissenschaftlicher Sorgfalt beschreibt. Trotz der Integration neuester Forschungsergebnisse bleibt es auch für Anfänger leicht zugänglich.
※Siehe auch (japanischer Artikel),
「獲得と所有権」志向から「ケアと義務」志向への転換のために: 本に溺れたい
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